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Pressekonferenz mit Günter Schabowski am 9. November 1989
1. Reihe, rechts. Ich drehe mich gerade nach einem Kollegen um.

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Der Tag an dem die Mauer geöffnet wurde:

9. November 1989

Wer irritierte Schabowski mit welcher Frage, mit welchem Zwischenruf?Es war Peter Brinkmann! 

Als Tag der Maueröffnung gilt der 9. November 1989. Die Vorgeschichte aber begann bereits am 8. November 1989.

Ich war am 8. November 1989 Korrespondent der Bild-Zeitung in Hamburg. Am frühen Vormittag bekam ich einen Anruf vom damaligen Staatsekretär Jörg Rommerskirchen beim Senator für Wirtschaft in Berlin. Ich kannte Herrn Rommerskirchen seit einigen  Jahren. Er war zuvor leitender Beamter beim Hamburger Senator für Wirtschaft, Jürgen Steinert, gewesen.

In meinem Buch „Schlagzeilenjagd“ (Seite 81 ff., Bastei-Lübbe, 1993) schreibe ich darüber:

Rommerskirchen sagte.“Du, es tut sich was. Wir haben gerade ein Telex aus dem Osten bekommen. Wir sollen bis zum 10. November eine Arbeitsgruppe, genau gesagt eine „Projektgruppe Tourismus“ nach § 8 der Durchführungsverordnung, Absatz 1, bilden, um den Reiseverkehr zwischen Berlin-Ost und –West zu regeln.“ Meine simple Frage. „Was heißt  das?“. Seine Antwort riss mich vom Hocker: „Das heißt, die Mauer wird geöffnet; sieh zu, dass du hier bist.“

Allerdings wusste der Staatssekretär es so genau denn doch nicht. Er meinte schließlich: Von einer Maueröffnung in dem Sinne, dass nun alle DDR-Bürger einfach so reisen könnten, könne wohl kaum ausgegangen werden. Dazu brauchte man kaum eine „Arbeitsgruppe Reisen“. Es sei vielmehr wohl so, dass die DDR eine größere Anzahl Bürger erlauben würde, unter bestimmten Voraussetzungen die Mauer passieren zu dürfen.

Nach diesem Anruf bin ich dann zum  Chefredakteur der BILD-Zeitung, Hans-Hermann Tiedje, gegangen und habe ihm davon berichtet. Daraufhin hat er die Berliner Redaktion, u.a. den Kollegen Redakteur Hans-Hennes Schulz, befragt, was dies bedeuten könne. Schulz hat, so Tiedje mir gegenüber, ebenfalls in dem Sinne von Rommerskirchen geantwortet. Er wolle sich aber bei Herrn Rommerskirchen noch einmal selbst erkundigen, was diese „Arbeitsgruppe“ für einen besonderen Zweck erfüllen könne.

Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, schreibt darüber in seinem Buch („Berlin, nun freue Dich! Mein Herbst 1989“ Verlag Das Neue Berlin, 2014), Seite 134/135:

„Während der Sitzung wurde der Staatssekretär in der Senatswirtschaftverwaltung, Jörg Rommerskirchen, ans Telefon herausgerufen. Er kam nach kurzer Zeit wieder in den Saal und flüsterte mir zu: „Ein befreundeter Journalist, von dem ich weiß, dass er exzellente Informationskanäle in die SED hinein hat, hat mir soeben gesagt, dass heute in der ZK-Sitzung noch eine wichtige Entscheidung zum Reisegesetz getroffen werden soll. Die ziehen das wegen der Proteste in der Bevölkerung jetzt vor und wollen Reisefreiheit geben…Ich fragte Rommerskirchen, wie sicher die Quelle sei. „Die Information ist absolut zuverlässig. Jörg Rommerskirchen sagte dazu im November 2009 in einem „Spiegel-Interview“: „Mit einem Gruß ließ mir der Bild-Journalist Peter Brinkmann aus Ost-Berlin ausrichten, dass dort erheblich etwas im Gange sei.“… Momper fragte nach meiner Quelle. Ich habe mich für Brinkmann verbürgt“.

Am 8. November 1989 habe ich nochmals mit Herrn Rommerskirchen telefoniert und ihm die Frage gestellt: „Gibt es Bewegung?“. Er verneinte. Der Stand sei unverändert. Von Seiten der DDR gäbe es keine neuen Mitteilungen. Und auch keine Erklärungen.

Weil die Lage unklar war und überhaupt nicht abzusehen war, welche genauen Pläne sich hinter dem text im Telex verbergen könnten, bat ich den Chefredakteur Hans – Hermann Tiedje, mich nach Ost-Berlin fahren zu lassen.

Am 9. November 1989 bin ich dann morgens gegen 8 Uhr über die Grenze bei Gudow Richtung Berlin gefahren und traf dort gegen 12 Uhr ein. Ich bin sofort über die Heinrich-Heine Strasse nach Ost-Berlin gewechselt und ins Pressezentrum der DDR gefahren.  Dort trafen sich die Kollegen aus der DDR, der Bundesrepublik und alle ausländischen Journalisten. Die Gerüchte Küche brodelte, Niemand ahnte allerdings, was wirklich passieren würde.

Ich habe mich dann unter den DDR-Kollegen nach der Einschätzung des Telex Textes erkundigt. Alle waren der Ansicht: Ja – Reiseerleichterungen wird es geben, aber niemals in großem Stil und vollem nicht für alle DDR-Bürger. Dann könne man die Mauer ja gleich abreißen!

Während wir im Pressezentrum in der Mohrenstrasse (heute Justizministerium) diskutierten und mutmaßten, begann die Sitzung des Zentralkomitees der SED im heutigen Außenamt. Auf der Tagesordnung stand u.a. die neue Fassung eines Reisegesetzes. SED-Generalsekretär Egon Krenz hatte den Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph, beauftragt, bis zu Beginn der Sitzung des ZK am Mittag eine neue Fassung zu erarbeiten. Diese neue Fassung liest Krenz den ZK-Mitgliedern vor (Wortlaut in seinem Buch Seite 2437244). Dort heißt es unter Punkt 2:

„Ab sofort treten folgen die zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR ins Ausland in Kraft:“

Und unter Punkt 3. heißt es:

„Über die zeitweiligen Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November zu veröffentlichen.“

Diese beiden Sätze werden den Abend zum historischen Ereignis machen. Denn der von Krenz in die Pressekonferenz ab 18 Uhr entsandte Günter Schabowski verheddert sich in dem Text.

Dazu schreibt der  SED-Generalsekretär Egon Krenz in seinem Buch „Herbst 89“ (Verlag Neues Leben, 1999) auf Seite 241 ff:

„Er (Schabowski) hält sich an den Text der Verordnung und der offiziellen Pressemitteilung. Aber dann der Irrtum: Die Grenzöffnung soll am Morgen des 10. November erfolgen. Für diesen Zeitpunkt sind die Befehle für die Grenztruppen, das Ministerium für Staatsicherheit und die Volkspolizei vorbereitet. Günter Schabowski antwortet jedoch auf eine Frage nach dem Zeitpunkt offensichtlich irritiert: „Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich.“

Diese Frage, es war eher ein lauter Zwischenruf, die Schabowski so irritierte, kam vom Korrespondenten der BILD-Zeitung in der DDR. Peter Brinkmann. Er saß direkt vor Schabowski in der 1. Reihe und hatte bereits drei Fragen  gestellt.

In der Abschrift der Sendung und im Protokoll des Tonbandes liest sich das so:

Als nun Schabowski den Text vorlas, rief Brinkmann laut dazwischen: „Ab wann tritt das in Kraft?“. Schabowski: Bitte?

Brinkmann erneut: „Ab sofort? Ab..“

Schabowski liest vom Blatt noch einmal den Text ab. Wieder Unruhe im Saal.

Es kommt eine Frage: „Mit Pass? „

Schabowski: Die Passfrage kann ich jetzt nicht beantworten.

Brinkmann ruft erneut: „Wann tritt das in Kraft?“

 Schabowski: „Das tritt nach meiner Kenntnis,..ist das sofort, unverzüglich.“

 Gerhard Beil flüstert ihm zu: „Das muss der Ministerrat beschließen.“

 Brinkmann ruft erneut: „Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?“

Diese Zwischenrufe sind deutlich zu hören. Bisher wurde aber in keiner Publikation, außer in meinem eigenen Buch „Schlagzeilenjagd“ (Bastei –Lübbe, 1993), im ARD-Sender Phoenix und im „Berliner Kurier“ (Mauerserie 7.- 13.Novenmber 2004) der Zwischenrufer identifiziert. Ich wusste es ja, dass ich es war, der dieser „Rufer“ war. Der ARD-Sender Phoenix hat erstmals 2004 anlässlich des 15. Jahrestages des Mauerfalles eine Sendung und ein Gespräch Brinkmann-Schabowski produziert, in dem ich als Zwischenrufer deutlich identifiziert wurde. Diese kurze Sequenz befindet sich auf meiner Webseitewww.brinkmannpeter.de

Günter Schabowski stellte zudem diesen Text zur Verfügung, um die Details kurz vor 19 Uhr zu erhellen. Seine Erklärung lautete:

„Zeitpunkt des Inkrafttretens Kein Zweifel. Herr Brinkmann war es, der mir die ersten Fragen  nach dem der neuen Regelung stellte. Er saß mir ja in dem Briefing direkt gegenüber. Nach einem kurzen Moment der Verblüffung, die wohl alle anwesenden Journalisten  nach meiner Information  (Verlesen des Entwurfs der entspr. Regierungsverordnung) teilten,  kamen seine Fragen wie aus der Pistole geschossen. Ich hatte ihn damals noch nicht als Bild-Korrespondenten identifiziert. Das erfuhr ich erst bei späteren Begegnungen. An das Gesicht  (Brille, gelichtetes Stirnhaar) erinnerte ich mich noch gut.

Das  DDR-Fernsehen übertrug auf Kanal DDR1 die Pressekonferenz live. Diese Zwischenrufe sind deutlich zu hören, Die Kamera erfasst kurz danach auch den BILD-Korrespondenten  Peter Brinkmann. (Eine Kopie der Übertragung ist beim deutschen Rundfunk Archiv in Berlin gegen eine Gebühr zu beziehen.)

Egon Krenz schreibt:

„Er (Schabowski) hält sich an den Text der Verordnung und der offiziellen Pressemitteilung. Aber dann der Irrtum: Die Grenzöffnung soll am Morgen des 10. November erfolgen. Für diesen Zeitpunkt sind die Befehle für die Grenztruppen, das Ministerium für Staatsicherheit und die Volkspolizei vorbereitet. Günter Schabowski antwortet jedoch auf eine Frage nach dem Zeitpunkt offensichtlich irritiert: „Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich.“

An der Pressekonferenz nahmen  neben Günter Schabowski auch Außenhandelsminister Gerhard Beil (links neben Schabowski auf dem Podium), die ZK-Mitglieder Helga Laabs und Manfred Banaschak teil. Ich sprach mit Außenhandelsminister Gerhard Beil über diese PK:

„Ich wusste ja, dass Schabowski nicht wusste, was wirklich beschlossen war. Es war für den 9. November, also im Begriff „Sofort“, gar nichts beschlossen. Es war nur der Entwurf diskutiert worden.  Die Regelung sollte wirklich erst am 10. November gelten.  Während er sich also verhaspelte und durch die wiederholten Zwischenrufe von Brinkmann irritiert worden war, flüsterte ich ihm zu: Es ist so nicht beschlossen. Und schob  ihm sogar einen Zettel zu, auf den ich geschrieben hatte: Das ist so nicht beschlossen. Er schaute zwar drauf, regierte aber nicht.“

Nun war also die Verwirrung perfekt.

Denn der Begriff „Sofort“ hatte im Verständnis der DDR-Bürokratie eine andere Bedeutung, als es die Journalisten aus dem westlichen Ausland verstanden. Dazu schreibt Egon Krenz in seinem Buch „Herbst `89“ auf Seite 244 in einer Fußnote:

„Es gehörte zur Praxis des SED-Politbüros, bei wichtigen Beschlüssen  gleichzeitig die entsprechenden Pressemitteilungen zu beschließen. Sie wurden in der Regel abends im Fernsehen und am darauf folgenden Tag in den Printmedien veröffentlich. In der von mir am Nachmittag des 9. November  1989 vor dem ZK verlesenen Pressemitteilung, die am 10. November  in der Presse veröffentlicht werden sollte, steht, dass die Reiseregelung „ab sofort“, das bedeutet ab 10. November, in Kraft tritt.“

Und in einer weiteren Fußnote auf Seite 245 schreibt Krenz:

„Schabowski las am 9. November 1989 um 18.53 Uhr – um die Frage eines Journalisten, wann die neue Reisereglung in Kraft tritt, zu beantworten: „Sofort, unverzüglich.“ – aus meinem Exemplar der Vorlage, die ich auf der Tagung des ZK verlesen hatte. Er hatte „sofort“ aus der Mitteilung für die Presse vorgelesenen, die erst am 10. November veröffentlicht werden sollte. Hier hätte er korrekt sagen müssen: ab morgen!“

Und weiter Krenz:

„Niemand von uns, der noch auf der Tagung des SED-Zentralkomitees  sitzt, hat dies gehört oder während  der Sitzung davon erfahren. Wir beraten weiter, während die Journalisten  die Mitteilung Schabowskis verbreiten. Die Welt nimmt die sofortige Maßnahme zur Kenntnis, was eigentlich erst am 10. November vollzogen werden soll.

Um 20.45 Uhr ist die Tagung zu Ende. Krenz schließt mit den Worten: „Wir müssen wirklich einen Neuanfang wagen." Wir müssen neu anfangen und das Vertrauen zurückgewinnen.“

Da ist es längst zu spät. Das Volk handelt selber.

Warum aber, frage ich Gerhard Beil, warum erfuhr denn keiner der führenden Mitglieder der SED, der Regierung und der Armee sowie der Stasi kurz nach 19 Uhr, was da gerade passiert war?

Beil: „Die DDR war praktisch zwei Stunden tot gewesen. Einige waren schon auf dem Heimweg, in den Autos gab es damals kein Telefon. Und bis 20 Uhr war auch noch alles ruhig. Es gab also keinerlei Kommunikation zwischen den wichtigsten Männern der DDR.“

Krenz schreibt: „Die Übertragung der Pressekonferenz hat niemand von uns gesehen. Was Schabowski  tatsächlich gesagt hat, erfahren wir erst Stunden später.“

Erst gegen 21 Uhr ruft Stasi-Chef Erich Mielke Generalsekretär Egon Krenz an. Mielke stammelt, irgendwas sei an der Grenze los, Schabowski habe was gesagt. Aber genaues wisse er noch nicht. Verteidigungsminister Heinz Kessler ist nicht erreichbar. Auch er sitzt im Auto nach Strausberg, Die Fahrt dauert 40 Minuten.

Kurz nach Mitternacht fährt Krenz nach Hause (Wandlitz). Erst da ruft Schabowski ihn an. Krenz schildert es in seinem Buch so:

„Er berichtet, was sich an der Grenze abspielte. Kein Wort von der Pressekonferenz und von dem dort verkündeten Öffnungstermin der Grenze. Ich werfe ihm den Irrtum nicht vor. Niemand kann sagen, wie sich die Bevölkerung verhalten hätte, wenn die Grenzöffnung wie geplant am Morgen des 10. November erfolgt wäre. Allerdings, und das ist wesentlich, am Morgen des 10. November wären die vorbereiteten Befehle vor Ort gewesen. Die Schutz – und Sicherheitsorgane hätten gewusst, was zu tun ist.“

Günter Schabowski schildert den 9. November 1989 gegenüber Peter Brinkmann so (Auszug aus dem Tonband Mitschnitt von 2004 aus Anlass 15 Jahre Mauerfall, Interview für „Berliner Kurier“, erschienen am 7. November 2004 und Text 13. November 2004):

TONBAND-ABSCHRIFT:

„Im Gebäude des Zentralkomitees (ZK) der SED (heute das Außenministerium) tagt das ZK. Es geht um viele Tagesordnungspunkte, einer davon ist das Reisegesetz der DDR. Es war schon einmal vorgelegt worden, hatte aber wegen des starken Widerstands aus der Bevölkerung zurückgezogen werden müssen. Der Generalsekretär der SED, Egon Krenz, hatte daher vom Ministerpräsidenten Willi Stoph eine neue Vorlage für den 9. November erbeten. Diese lag vor.

Egon Krenz hatte mich gebeten, mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, zu sprechen. Als ich mit Momper sprach, hab ich ihn davon informiert, dass ein Reisegesetz in Bälde veröffentlicht werden wird.  Zu sprechen war  ja notwendig wegen der Grenzübergänge. Der Konsistorialrat der Evangelischen Kirche, Manfred Stolpe (nach 1990 Ministerpräsident von Brandenburg, Anmerkung von P.B.) hatte dies Gespräch vermittelt. Wir hatten keine Kompetenz mit West-Berlin zu verhandeln oder gar zu sprechen. Ohne dass ich dafür besonders bevollmächtigt war, habe ich ihm gesagt, dass es zu einer Regelung kommen wird. Dabei sind wir aber davon ausgegangen, dass die Volkskammer im Dezember ein Gesetz beschließen wird. Wir dachten, jetzt würden wir nach und nach alles machen, was notwendig sein würde, um ein ordentliches Reisegesetz umzusetzen. Als wir aber den ersten Entwurf am Montag veröffentlichten, also in der Woche, in der die ZK-Tagung stattfinden sollte, schlug uns sofort eine Welle des Protestes entgegen. Eine furchtbare Situation, wir versuchten krampfhaft, den Leuten zu demonstrieren, dass wir etwas anderes wollen, wir wollten es ja besser machen. Die Einwände, die kamen, waren deutlich: 1. Es gibt kein Geld, um überhaupt reisen zu können. 2. Der Gedanke, dass die Bundesregierung in Bonn eventuell den Reisenden aus der DDR 300 DM Reisegeld zur Verfügung stellen könnte, war ja absurd.  Der 2. Punkt  war, dass wir nicht ins Gesetz geschrieben hatten, das jeder ausreisen kann. Nur wenn er irgendwohin will, muss er sich von dem entsprechenden Land ein Einreisevisum besorgen, nur die DDR war nicht so trainiert. Die hatte immer nur mit Ausreisevisa zu tun. Das wurde wieder so interpretiert von den Menschen, dass da wieder jemand da oben sitzt, der entscheidet, ob ich reisen darf oder nicht. Die Situation war also dem Anschein  nach für sie gar nicht verändert oder beendet. Das führte dazu, dass am Abend schon in der Leipziger Demonstration Proteste gegen die Reiseregelung erfolgten. Und es kamen die ersten Streikdrohungen. Und es kamen auch Proteste aus Prag. Die Tschechen wollten, dass wir die Grenze zur CSSR dicht machten. Also mussten wir das Ventil gen Westen öffnen! Das war die logische Schlussfolgerung. Also: diese Situation bringt uns auch auf Trab. Jeder ist sich selbst der nächste. Diese Faktoren führten dazu, das wir sagten: Wir müssen diese Reiseregelungen vorziehen.

Egon Krenz beauftragt also Willi Stoph, die vorliegende Reise-Verordnung zu überarbeiten.  Das war dann am 9. November 1989 fertig geworden. Der Entwurf wurde Egon Krenz überbracht und dem ZK zur Beratung vorgelegt.

Mir und auch anderen war schon klar, was freies Reisen, sollte es dann so beschlossen werden, für die DDR bedeuten würde: Die Mauer würde ihre Bedeutung verlieren. Die Mauer ist dann nur noch eine Metapher, wenn den Leuten gestattet ist, zu reisen, wohin sie wollen. Dann ist die Mauer weg. So war die ZK-Sitzung auch ein  Ausdruck dafür, dass die Führung der DDR unter Druck war. Jetzt muss die SED denen verkaufen, dass die Leute reisen dürfen. Perspektivisch zu denken waren die aber nicht imstande.

Das war die Situation am Nachmittag des 9. November 1989 im ZK.

Kurz vor Schluss dieser ZK-Sitzung erhielt ich von Egon Krenz den BESCHLUßENTWURF des Ministerrates. Ich kann nur vermuten, dass Krenz wie ich selbst auch vermutet hatte, das sei der Beschluss des Ministerrates. Es war aber nur der Entwurf. Er sollte durch Abruf bis 19 Uhr verabschiedet sein. Krenz gibt mir kurz vor 18 Uhr das Ding, und ich gehe in die Pressekonferenz.

Ich gehe in dem Bewusstsein, ich habe die Entscheidung des Ministerrates in der Hand. Weil nach der Ministerratsentscheidung, die Militärs benachrichtigt werden mussten. Die wussten aber noch nichts. So hab' ich das Ding dann mitgeteilt, in dem Bewusstsein,  es ist unsere Entscheidung, die realisiert ist.

In Wirklichkeit ging danach erst, unabhängig von mir, die Benachrichtigung an die Grenzübergänge raus. Das war ein rechtes Kommunikationsloch.

Als ich dann durch den Zwischenruf von Herrn Brinkmann, ab „Wann“ das gilt, noch einmal auf meinen Zettel schaue, sehe ich, es steht alles drin, ausreisen, reisen. Einundeinhalb Seite lang. Dann fragt Brinkmann noch einmal und ich schaue auch noch einmal auf das Blatt und habe mir in dem Moment gesagt, es steht gar nicht drin. Ich bin offensichtlich der Verkünder und Inkraftsetzer. Die Sperrfrist, die die sich gesetzt hatten, war früh um Viere am 10. November.  Und als Brinkmann dann auch noch dazwischen ruft, „gilt das auch für West-Berlin?“, da habe ich mir gesagt, das ganze Protokoll zum Vier-Mächte Abkommen interessiert mich nicht jetzt mehr,  Ich sah mich auch im Recht in der Situation.

Nach der Pressekonferenz bin ich zurück ins ZK gefahren, habe meine Tasche genommen und bin nach Hause nach Wandlitz gefahren. Ich habe keinen Moment daran gezweifelt, dass alles so verlaufen würde, wie beschlossen, also die Bürokratie funktioniert, die Grenzöffnung wird ab 10. November wirksam.  Das diese Bürokratie nicht funktionieren konnte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich war dann gegen 20 Uhr zu Hause. Gegen 22 Uhr bekam ich einen Anruf, da sammeln sich an der Bornholmer Str. Leute. Ich sagte: die sollen sich nicht sammeln, die sollen die da durch lassen, ich hab doch mitgeteilt, das die Grenze offen ist. Ruf mich noch mal an, falls was ist. Die riefen noch mal an, dass noch mehr Menschen gekommen waren. Ich fuhr dann wieder nach Berlin rein, um mir selbst ein Bild zu machen. Kam zur Bornholmer Str. und die waren alle vergnügt und ließen uns durch, bin dann zur Heinestrasse gefahren. Dort stieg ich aus (ca. 22.30), und schon kam einer auf mich zu und ich sagte: lassen sie sie durch.  Dann sah ich, wie die mit gehobenem Ausweis da durchgingen.   Beim Losfahren, wie beim Rückfahren, Wandlitz - im tiefen Schlaf lag Babylon - in Wandlitz kein Mensch. Am nächsten Morgen, die ZK-Sitzung wird fortgesetzt, mit mir hat niemand weiter gesprochen, was ist denn da los. Auch von Mielke kein Anruf - nichts. Im Politbürozimmer trinken wir Kaffee, der einzige, der eine Bemerkung macht war Mielke. Na, da hat uns ja einer schön was eingebrockt, war zu hören.  Ich hab völlig ignoriert, was der erzählt. 

So weit Günter Schabowski im Gespräch mit Peter Brinkmann August 2004 (Tonband Aufnahme))

Was Schabowski mit der „DDR-Bürokratie“ meinte, auf die sich so verlassen wollte, ergibt sich aus der Schilderung von Egon Krenz.

Hier noch einmal die Fußnote von Krenz auf Seite 244:

 „Die Verantwortlichen für die Medienarbeit – zu dieser Zeit  war es Günter Schabowski oder ein von ihm Beauftragter – hätten jetzt in der Pressemitteilung den letzten Satz ändern müssen. Statt „ab sofort“ hätten sie schreiben müssen: „ab morgen“ oder „ab 10. November.“ Niemand im ZK konnte ahnen, dass sie dies unterließen.

Der Text, also mit „Sofort“ = 10. November wird dann per Fernschreiben gegen 17 Uhr allen Bezirks-. Und Kreisleitungen der SED übermittelt.

 

Noch einmal ein Rückblick auf die ZK-Sitzung:

Günter Schabowski ist seit 2 Stunden draußen vor dem ZK Gebäude. Dort haben sich Bauarbeiter versammelt und es droht Ungemach. Krenz hatte Schabowski zu den Arbeitern geschickt, um mit ihnen zu diskutieren. Daher hatte Schabowski auch an der ZK Diskussion nicht teilgenommen.

Gegen 17.15 Uhr kommt Schabowski in den Saal der ZK-Tagung. Und meldet sich gleich wieder bei Krenz ab. Denn um 18n Uhr beginnt die jetzt schon übliche Pressekonferenz mit ihm im Pressezentrum der DDR in der Mohrenstrasse.

Schabowski fragt Krenz, ob er etwas Besonderes vortragen solle über und aus der Diskussion. Krenz sagt zu ihm (zitiert aus dem Buch von Egon Krenz: „): „Du musst unbedingt über den Reisebeschluß informieren. Das ist die Weltnachricht“. Krenz übergibt ihm dann ein Blatt mit der vom SED-Generalsekretär Krenz korrigierten Version des Reisegesetz- Entwurfes.

Zusammen mit Außenhandelsminister Gerhard Beil fährt Schabowski in einem Dienstwagen zum Pressezentrum.

Darüber sagte Gerhard Beil zu Peter Brinkmann:

„Ich war die ganze Zeit im ZK gewesen, hatte also die ganze Diskussion mitbekommen. Ich hatte nun erwartet, dass Schabowski mich nach weiteren Details fragen würde. Aber er hatte den Zettel von Krenz nur genommen, gefaltet und dann ungelesen in seine Tasche gesteckt. Während der Fahrt sagte er kein Wort. Ich hatte den Eindruck, dass die Diskussionen mit den Arbeitern vor dem ZK ihn sehr mitgenommen, ja aufgewühlt hatten. Als wir im Pressezentrum kurz vor 18 Uhr ankamen, hatte er nicht ein einziges Mal den Zettel von Krenz mit den Veränderungen und gelesen. „

Krenz schreibt dann zur PK einen lapidaren Satz: „Hier löst er (Schabowski) durch einen kleinen Irrtum große Folgen aus.“

Denn um 18.53 Uhr frage der Kollege Ricardo Ehrmann  nach der Diskussion um das Reisegesetz. Genau diese Diskussion kannte aber Schabowski nicht. Er war nicht dabei gewesen!

Und die Grenzöffnung bahnte sich an. Zwischenrufe, ein nervöser und irritierter Schabowski. Die DDR war am Ende.

Berliner Kurier, Ausgabe 13. November 2004

Von Günter Schabowski:

Der Schmierzettel, der die Mauer sprengt

          Wie ein einziger Satz plötzlich die Weltordnung

           veränderte und den Eisernen Vorhang aufriss

 72 Stunden nach dem misslungenen Entwurf eines Reisegesetzes, der

 die Menschen zu neuerlichen Protesten und Demonstrationen

 provoziert hatte, tagte das Zentralkomitee der SED. Es war der 9.

 November. Innenminister Dickel händigte Krenz auf dem Plenum eine

 Ersatzvariante aus: Aus dem ursprünglichen Entwurf eines Gesetzes

 war eine Eil-Verordnung der Regierung über uneingeschränkte

 Reisemöglichkeiten der Bürger geworden. Sie würde im Unterschied

 zu einem Gesetz sofort in Kraft treten können, ohne die

 Volkskammer passieren zu müssen, die erst im Dezember

 zusammentreten sollte.

   In dürren Worten informierte Krenz das Plenum über den Inhalt

 der neuen Regelung. Er begründete den vorgezogenen Schritt mit

 einer Drohung aus Prag. Der tschechische KP-Chef sei entschlossen,

die eigene Grenze dicht zu machen, falls der Flüchtlingsstrom nach

 Prag anhalten sollte. Ein Wort über die massiven Einwände der

 Bürger unterblieb. Das altgewählte ZK, in seiner Mehrheit unter

 dem Schock der Massendemos, des Honeckersturzes und verwirrender

 Dekrete aus dem Politbüro, nahm die Information ohne besondere

 Debatte hin.

   Ich kam erst nach mehrstündigen Gesprächen mit Journalisten

 gegen 17 Uhr in die ZK-Tagung und setzte mich neben Krenz. Er

 händigte mir den Regierungstext aus. Ich überflog ihn. Die

 Essentials Reisefreiheit und das Recht auf ständige Ausreise waren

 enthalten. Nach kurzem Abwägen des Für Entlastung von öffentlichem

 Druck und wider neuerliches Eingeständnis einer hastigen

 Pannenkorrektur einigten wir uns darauf, dass ich die

 internationalen Pressevertreter auf dem anschließenden Briefing

 von unserer Maßnahme unterrichte. "Das wird ein Knüller", war

 Krenz inzwischen überzeugt.

   Der viel zitierte Zufall nahm seinen Lauf. Krenz hatte mir

 nichts über eine Sperrfrist gesagt, die das Innenministerium

 vorgesehen hatte. Vielleicht wusste er es selbst nicht, vielleicht

 hatte er es einfach ignoriert. Er behauptet bis heute verbissen

 das Gegenteil. Das Papier der immer wieder beschworene "Zettel"

 trug keinen solchen Vermerk. Die Regierungsbürokratie wollte es

 erst früh um vier durch einen Rundfunksprecher verlesen lassen.

 Aber wie hätte man Stunden vorher die Weltpresse informieren

 können und ihnen anschließend Mund, Schreibmaschine oder Telefon

 mit einem "Embargo" versiegeln wollen. Wenn Krenz mir mit einer

 solchen Schnapsidee gekommen wäre, hätte ich sie ihm entschieden

 ausgeredet. Nicht einmal mehr die befehlsgewohnte DDR-Presse war

 so zu dressieren, geschweige denn die auf der Konferenz

 versammelte Weltpresse. .

   So kam es, dass die Grenze Stunden früher passierbar wurde, als

 es sich der rote Amtsschimmel ausgedacht hatte. Bis vier Uhr früh

 wähnte die hinter den Kulissen nur noch amtierende Regierung,

 Zeit zu haben, um die Posten an den Grenzübergängen überall im

 Lande zu benachrichtigen. Doch die sahen sich schon bald nach der

 Pressekonferenz, einer rasch zunehmenden Zahl von Bürgern

 gegenüber, die die Öffnung "testen" wollten.

   Die Kunde von meiner Mitteilung hatte sich international, aber

 mehr noch im unmittelbar betroffenen Ballungsgebiet Ost- und

 Westberlin wie ein Lauffeuer verbreitet. Ja, die Nachricht hatte

 schon den Erdball umrundet, in Canberra wusste man's, nur die

 Grenzposten an den Berliner Übergangsstellen waren ahnungslos.

 Eine mehrstündige gefährliche Phase der Unsicherheit an den

 Passierstellen war die Folge. Die Fernsehbilder und Pressefotos

 von dieser Nacht in Berlin gingen um die Welt und prägen die

 Erinnerung an die dramatischen Stunden. Und noch heute ist es kaum

 fassbar, dass es nirgendwo zu einem blutigen Zwischenfall kam.

 Bewirkt wurde es durch das undramatische und eigenständige

 Reagieren der Grenzposten, wie durch die überwiegend aufgekratzte

 Stimmung und friedliche Haltung der Menschen auf beiden Seiten der

 Grenze.

   Stunden nach der Pressekonferenz sollte ich Augenzeuge des

 "Wunders" werden. Bis dahin empfand ich nur Genugtuung. Sie

 überlagerte den Dauerstress der Wendetage. Ich war sicher, die

 Fluchtwelle würde abebben. Unser Kalkül war, wer frei reisen und

 ohne Diskriminierung ausreisen, d.h. der ungeliebten DDR den

 Rücken kehren will, braucht nicht mehr fluchtartig das Land zu

 verlassen, ohne zu wissen, was ihn "drüben" erwartet. Inzwischen

 würden wir uns als Reformer empfehlen.

  In diese Vision am Ende des Tages, die eher

 selbst-beschwichtigende Illusion war, schrillte mein Telefon in

 Wandlitz. Es war ein Mitarbeiter der Bezirksleitung der SED. Am

 Grenzübergang Bornholmer Straße passiere etwa Merkwürdiges: Viele

 Menschen hätten sich dort angesammelt. Aber die Grenzer würden sie

 nicht durchlassen. "Das kann doch nicht sein", sagte ich und

 unterdrückte hochkommenden Ärger ("Schon wieder eine Panne. Wer

 hat denn da bei der Information an die Grenzer Mist gebaut...")

 Ohne Kenntnis von der Sperrfrist war ich sicher, dass der

 Regierungsapparat alle notwendigen Vorkehrungen vor meiner

 Verlautbarung getroffen haben musste. Den Anrufer bat ich, noch

 einmal zu prüfen, ob die Blockade inzwischen vielleicht doch schon

 behoben ist und mich erneut anzurufen. Wenig später klingelte

 abermals das Telefon. Nichts habe sich geändert, höre ich. Die

 Menschenmenge sei noch größer geworden. Aber niemand werde

 durchgelassen.

   Ich entschließe mich, sofort nach Berlin zu fahren und notfalls

 an Ort und Stelle, dafür zu sorgen, dass die Grenze geöffnet wird.

 Wo Wisbyer- und Bornholmer Straße die Schönhauser Allee kreuzen.

 gibt es einen Stopp. Eine Kette von Trabis und Wartburgs,

 Kühlerhaube in Richtung Grenzübergang, verstopft bereits die

 Bornholmer Straße. Kein Durchkommen.

   Ich nehme Kurs auf den Übergang Heinrich-Heine Straße. Als ich

 dort aussteige, kommt ein Zivilist auf mich zu und skandiert in

 Melde-Tonlage. "Genosse Schabowski, seit kurzen lassen die Grenzer

 die Leute passieren. Es hat kein besonderes Vorkommnis gegeben."

 Der Zivilist ist vermutlich einer von Mielkes Mannen, die er in

 Grenznähe postiert hatte. Es war schon ein Witz: 28 Jahre hatte es

 gebraucht, bis der Betonriegel weg ist. Die Grenze ist offen, und

 ein Stasimann kann kein "besonderes Vorkommnis" dabei entdecken.

   Ich empfinde in diesem Augenblick nur eine ungeheure

 Erleichterung. Die Gefahr der Eskalation scheint abgewendet. Von

 hinten trete ich an die Menge heran, die allmählich nach

 Westberlin flutet. Die Stimmung ist freudig, erwartungsvoll, trotz

 des Gedränges irgendwie unaufgeregt. Die Menschen ziehen mit

 gezücktem blauen Personalausweis an den Grenzern vorbei. Die DDR

 scheint noch nicht verloren...

   Viel später sollte ich erfahren, dass die Grenzer zumindest an

 einigen Berliner Passierstellen in jenen Abendstunden unter dem

 Druck und den Zurufen der Berliner auf eigene Kappe den Durchlass

 gestartet hatten.

   Rumpelnd und knirschend war unser Wendeversuch bisher abgerollt.

 Ebenso war der 9. November über die Bühne gegangen. An einer

 Katastrophe waren wir nur eben vorbeigeschrammt. Als eigentliches

 Wunder bleibt, dass an der fallenden Mauer kein Schuss fiel und

 kein Blut geflossen ist.

   Am 13. August 1961 war das triste Stück politischer Architektur

 hochgezogen worden, um die DDR zu stabilisieren. Am 9. November

 1989, begannen wir den Mauerabriss, um die DDR zu retten. Der

 größere Irrtum war es, zu glauben, man könne mit 28-jähriger

 Verspätung den rapiden Verfall der SED-Macht durch die

 Maueröffnung stoppen. Es waren zwei konträre Versuche, die den

 gleichen Zweck verfolgten. Beide schlugen fehl. Die Frage nach der

 Lebenstauglichkeit einer sozialistischen Ideologie- und

 Zwangsgesellschaft hatte sich beantwortet.

  

   13. November 2004: Berliner Kurier:

        KURIER-Reporter Peter Brinkmann: So kitzelte ich aus            Schabowski den erlösenden Mauerbrecher-Satz heraus

 9. November 1989, 18. 53 Uhr. Die Pressekonferenz mit Günter

 Schabowski neigt sich dem Ende zu. Plötzlich wird es wieder

 spannend. Schabowski zum Thema Reisefreiheit: "Es ist, soviel ich

 weiß, eine Entscheidung getroffen worden . . . eine Regelung zu

 treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über

 Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen". Peter Brinkmann sitzt

 in der 1. Reihe der internationalen Pressekonferenz (Foto, im

 Kreis). Er ruft "Wann tritt das in Kraft?" Schabowski stottert:

 "Das tritt nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort,

 unverzüglich. " Brinkmann stürzt los. Mit seinem damals sehr

 seltenen und teuren Mobiltelefon jagt er die Nachricht an die

 Redaktion in Hamburg.

Ich habe Egon Krenz nach 1989, als ich mit hm über mehrere Serien in der BILD-Zeitung aus seiner Feder, verhandelte, mehrfach gefragt, ob die Maueröffnung von ihm beabsichtigt gewesen war. Seien Antwort war immer sinngemäß so: Nein, das war nicht meine Absicht. Das wäre ohne Zustimmung der Sowjetunion ja gar nicht gegangen. Wir wollten Reiseerleichterungen, ja. Aber ich wollte nie die Aufgabe der DR. Und an einen Abriss der Mauer habe ich nie gedacht. Das war eine Folge der Äußerungen von Schabowski.

Dass mit den neuen Änderungen keine Öffnung der Mauer verbunden sein sollte, erklärt Walter Momper auf Seite 134:

„Schabowski hatte es wirklich nicht begriffen. Soeben hatte er die Mauer  durch die Gewährung umfassender Reisefreiheit praktisch zu einer funktionslosen Betonwand degradiert, und nun pokerte er mit ihrem Abbau als Gegenleistung für Abrüstungsschritte. Welche Verblendung! Schabowski und die SED ahnten nicht, welche Lawine die neue Reisereglung lostreten würde. „

Seite 135: „Heute wissen wir, dass der vom Innenministerium stammende Entwurf der neuen Reiseregelung wie eine lästige Nebensache vom Politbüro während des Essens in der Mittagspause und danach ganz beiläufig vom Plenum des Zentralkomitees beschlossen wurde, jeweils in den Momenten, in denen  Schabowski gerade nicht dabei war. Am Abend wurde die Regelung, die förmlich eine Anordnung des Ministerrates war, dann vom Politbüro-Mitglied Schabowski ebenso beiläufig öffentlich gemacht.“

Literatur:

Peter Brinkmann, Schlagzeilenjagd, Bastei-Lübbe, 1993, ISBN 3-404-60358-3

Peter Brinkmann, Zeuge vor Ort, edition Ost, 2014, ISBN 978-3-360-01860-1, September 2014

Egon Krenz, Herbst `89, Verlag Neues Leben, 1999

Hans-Hermann Hertle, Mein 9. November, Nicolai Verlag, ISBN 3-87584-774-1, 1999

Walter Momper, Berlin, nun freue Dich, Verlag Das Neue Berlin, 2014, ISBN 978-3-360-02180-0

  

 

1.Juni 2014 

 

Peter Brinkmann  | brinkmann.peter@gmail.com