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ARD 2.11.2009: http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3300510 

= Schabowskis Zettel. 74 Minuten

 

Dr.Hans-Hermann Hertle

Schabowskis Pressekonferenz

 

Aufgeschreckt erteilt das Politbüro dem Ministerrat den Auftrag, kurzfristig eine Reiseverordnung auszuarbeiten. Beabsichtigt ist, ständige Ausreisen – also die Übersiedlung in die Bundesrepublik – zu genehmigen, aber erst nach einem entsprechenden Antrag. Besuchsreisen sollen – ebenfalls auf Antrag – bis zu dreißig Tagen pro Jahr genehmigt werden, jedoch an die Erteilung eines Visums und den Besitz eines Reisepasses gekoppelt werden.

Einen Reisepass aber besitzen nur etwa vier Millionen Bürger; alle anderen, so das Kalkül, müssen zunächst einen Pass beantragen und sich dann noch einmal mindestens vier Wochen gedulden. Einem sofortigen Aufbruch aller Bürger, so meint man, ist damit ein Riegel vorgeschoben. Die neue Reiseverordnung soll erst am 10. November ab vier Uhr früh bekannt gegeben werden, um die Mitarbeiter des Paß- und Meldewesens auf den erwarteten Massenansturm vorzubereiten.

Am Nachmittag des 9. November stimmen Politbüro und Zentralkomitee dem Entwurf zu. Egon Krenz übergibt das Papier Günter Schabowski. Er beauftragt ihn, darüber auf einer für 18 Uhr anberaumten Pressekonferenz zu informieren.

Schabowski ist nicht dabei gewesen, als das Politbüro die Reiseverordnung in den Mittagsstunden bestätigte. Auch als Krenz die Reiseregelung dem Zentralkomitee vorlas, war er nicht im Saal. Er kennt deshalb weder den Wortlaut des Papiers noch weiß er etwas von einer Sperrfrist.

Am Ende seiner Pressekonferenz, die live vom DDR-Fernsehen übertragen wird, liest er die Reiseregelung von dem Zettel ab, den Krenz ihm übergeben hat. Danach sollen DDR-Bürger nicht nur ständige Ausreisen, sondern auch Privatreisen ohne Vorliegen der bis dahin geforderten Voraussetzungen beantragen können, die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. Ständige Ausreisen könnten über alle Grenzübergänge der DDR zur Bundesrepublik bzw. Berlin-West erfolgen. „Wann tritt das in Kraft?“, fragt ein Journalist. Schabowski wirkt hilflos, denn „diese Frage“, so das Politbüro-Mitglied später, „war mit mir zuvor nie besprochen worden“. Er kratzt sich am Kopf und überfliegt das Papier.

Den Schlußsatz des Ministerrat-Beschlusses, der festlegt, daß die Pressemitteilung erst am 10. November bekannt gegeben werden soll, übersieht er. Seine Augen bleiben gleich am Anfang an den Worten „sofort“ und „unverzüglich“ hängen. So formuliert er als knappe Antwort: „Sofort, unverzüglich!“ Wenige Minuten später, um 19.01 Uhr, ist die Pressekonferenz beendet.

 

 

Schabowski: [...] Allerdings ist heute, soviel ich weiß (blickt bei diesen Worten zustimmungsheischend in Richtung Labs und Banaschak), eine Entscheidung getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, daß man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus herausnimmt und in Kraft treten läßt, der stän... - wie man so schön sagt oder so unschön sagt - die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es (äh) für einen unmöglichen Zustand halten, daß sich diese Bewegung vollzieht (äh) über einen befreundeten Staat (äh), was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute (äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte der DDR (äh) auszureisen.

 

Frage: (Stimmengewirr) Das gilt ...? - Ohne Paß? Ohne Paß? (Nein, nein!) - Ab wann tritt das ...? (...Stimmengewirr...) Ab wann tritt das in Kraft?

 

 

Schabowski: Bitte?

 

Frage (Brinkmann, Journalist): Ab sofort? Ab ...?

 

Schabowski: ... (kratzt sich am Kopf) Also, Genossen, mir ist das hier also mitgeteilt worden (setzt sich, während er weiterspricht, seine Brille auf), daß eine solche Mitteilung heute schon (äh) verbreitet worden ist. Sie müßte eigentlich in Ihrem Besitz sein. Also (liest sehr schnell vom Blatt): "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der VP - der Volkspolizeikreisämter - in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.

 

Frage (Ehrman, Journalist): Mit Paß?

 

Schabowski: (Äh) (Liest) „Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten." (Blickt auf.) (Äh) Die Paßfrage kann ich jetzt nicht beantworten (blickt fragend in Richtung Labs und Banaschak). Das ist auch eine technische Frage. Ich weiß ja nicht, die Pässe müssen ja, ... also damit jeder im Besitz eines Passes ist, überhaupt erst mal ausgegeben werden. Wir wollten aber ...

 

Banaschak: Entscheidend ist ja die inhaltliche Aussage ...

 

Schabowski: ... ist die ...

 

Frage: Wann tritt das in Kraft?

 

Schabowski: (blättert in seinen Papieren) Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich (blättert weiter in seinen Unterlagen) ...

 

Labs: (leise) ... unverzüglich.

 

Beil: (leise) Das muß der Ministerrat beschließen.

 

Frage: Auch in Berlin? (... Stimmengewirr ...)

 

Frage (Brinkmann, Journalist): Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?

 

Schabowski: (liest schnell vor) "Wie die Presseabteilung des Ministeriums ..., hat der Ministerrat beschlossen, daß bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt wird."

 

Frage (Brinkmann, Journalist): Gilt das auch für Berlin-West? Sie hatten nur BRD gesagt.

 

Schabowski: (Zuckt mit den Schultern, verzieht dazu die Mundwinkel nach unten, schaut in seine Papiere.) Also (Pause), doch, doch (liest vor): "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen."

Schabowski: [...]A decision was made today, as far as I know (looking toward Labs and Banaschak in hope of confirmation). A recommendation from the Politburo was taken up that we take a passage from the [draft of the] travel regulation and put it into effect, that (um) — as it is called, for better or worse — that regulates permanent exit, leaving the Republic. Since we find it (um) unacceptable that this movement is taking place (um) across the territory of an allied state, (um) which is not an easy burden for that country to bear. Therefore (um), we have decided today (um) to implement a regulation that allows every citizen of the German Democratic Republic (um) to (um) leave the GDR through any of the border crossings.

 

 

 

 

Question: (many voices) When does that go into effect?... Without a passport? Without a passport? (No, no) — When is that in effect?... (confusion, voices...) At what point does the regulation take effect?

 

Schabowski: What?

 

Question (Brinkmann, Journalist):  At once? When ...?

 

Schabowski: (... scratches his head) You see, comrades, I was informed today (puts on his glasses as he speaks further), that such an announcement had been (um) distributed earlier today. You should actually have it already. So, (reading very quickly from the paper): “Applications for travel abroad by private individuals can now be made without the previously existing requirements (of demonstrating a need to travel or proving familial relationships). The travel authorizations will be issued within a short time. Grounds for denial will only be applied in particular exceptional cases. The responsible departments of passport and registration control in the People’s Police district offices in the GDR are instructed to issue visas for permanent exit without delays and without presentation of the existing requirements for permanent exit.”

 

Question (Ehrman, Journalist): With a passport?

 

Schabowski: (um...) (reads:) “Permanent exit is possible via all GDR border crossings to the FRG. These changes replace the temporary practice of issuing [travel] authorizations through GDR consulates and permanent exit with a GDR personal identity card via third countries.”

(Looks up) (um) I cannot answer the question about passports at this point. (Looks questioningly at Labs and Banaschak.) That is also a technical question. I don't know, the passports have to ... so that everyone has a passport, they first have to be distributed. But we want to...

 

 

Banaschak: The substance of the announcement is decisive...

 

Schabowski: ... is the ...

 

Question: When does it come into effect?

 

Schabowski: (Looks through his papers...) That comes into effect, according to my information, immediately, without delay (looking through his papers further).

 

Labs: (quietly) ...without delay.

 

Beil: (quietly) That has to be decided by the Council of Ministers.

 

Question: In Berlin also? (...Many voices...)

 

Question (Brinkmann, Journalist): You only said the FRG, is the regulation also valid for West Berlin ?

 

Schabowski: (reading aloud quickly) “As the Press Office of the Ministry ... the Council of Ministers decided that until the Volkskammer implements a corresponding law, this transition regulation will be in effect.”

 

 

Question (Brinkmann, Journalist): Does this also apply for West Berlin ? You only mentioned the FRG.

 

Schabowski: (shrugs his shoulders, frowns, looks at his papers) So ... (pause), um hmmm (reads aloud): “Permanent exit can take place via all border crossings from the GDR to the FRG and West Berlin , respectively."

 

 

In der Haupt-Nachrichtenzeit bis 20.15 Uhr wird seine Mitteilung zum Spitzenthema. In Ermangelung präziser Informationen beginnen die West-Medien, den von Schabowski eröffneten Interpretationsspielraum zu füllen, die Informationen zu verdichten und einen eigenen Bedeutungszusammenhang zu konstruieren. Sehr schnell interpretieren sie seine widersprüchlichen Äußerungen als „Grenzöffnung“: „DDR öffnet Grenzen“ schlagzeilt Associated Press bereits um 19.05 Uhr, und DPA verbreitet um 19.41 Uhr die „sensationelle Mitteilung“: „Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ist offen.“ Die ARD-Tagesschau plaziert die Reiseregelung als Top-Meldung und blendet dazu als Schrift ein: „DDR öffnet Grenze“.

 

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Dr. Hans-Hermann Hertle:

 

Dr. phil., geb. am 29. Juni 1955 in Eisern/Siegen (Westf.)

Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Marburg und Berlin

1983 Diplomabschluß am Fachbereich Politische Wissenschaft der FU Berlin. Thema der Diplomarbeit: "Gewerkschaftliche Organisation und innergewerkschaftliche Opposition in der chemischen Industrie in der Bundesrepublik Deutschland". Note: "sehr gut".

1983/84 Mitarbeit im von der VW-Stiftung geförderten Forschungs-projekt "Arbeiterbewegung in der US-Zone" (Leitung: Prof. Dr. Theo Pirker)

1985-1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin

1990-1995 im Rahmen verschiedener DFG-Forschungsprojekte wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin

1996 Abschluß des Promotionsverfahrens am Fachbereich Politische Wissenschaft der FU Berlin. Thema der Dissertation: "Der Fall der Berliner Mauer. Eine historisch-empirische Studie zur Selbstauflösung des SED-Staates" (Gutachter: Prof. Dr. Peter Steinbach/Prof. Dr. M. Rainer Lepsius). Note: "summa cum laude".

1996/97 selbständige Tätigkeit als Sozialforscher und wissenschaftlicher Publizist; Gastforscher im Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin

1997 - 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin im DFG-Forschungsprojekt "Sicherung der Volkswirtschaft. Untersuchung zur Kontrolle und Steuerung der DDR-Wirtschaft durch das Ministerium für Staatssicherheit" (Leitung: Prof. Dr. Peter Steinbach/FU Berlin; Prof. Dr. Erhard Stölting/Universität Potsdam)

Seit Dezember 1999: wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

 

 

 

 

 

 

 

  (18.10.200/)

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Während Schabowski noch las, rief der Korrespondent der BILD-Zeitung in der DDR, Peter Brinkmann, wieder laut dazwischen: „Wann? Ab sofort?“. Schabowski stutzte, schaute noch einmal auf seinen Zettel und sagte dann: „Meines Wissens sofort, unverzüglich.“ Brinkmann, der in der ersten Reihe direkt vor Schabowski saß, rief noch einmal: „Sofort?“. Schabowski blättert in seinen Papierstapeln und antwortet schließlich:

„Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“

Brinkmann ruft erneut: „Auch für Westberlin?“ Schabowski: „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.“

(zitiert nach Zeitzeugen: Transkript von Hans-Hermann Hertle, Katrin Elsner: Mein 9. November, Verlag Nicolai Berlin 1999 / Peter Brinkmann: Schlagzeilenjagd, Bastei Lübbe Verlag 1993 / ARD-Tagesschau und DDR1-Fernsehen vom 9. November 1989 / Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls. CH.Links Verlag )

GÜNTER SCHABOWSKI:

Kein Zweifel. Herr Brinkmann war es , der mir die ersten Fragen  nach dem der neiuen Regelung stellte. Er saß mir ja in dem Briefing direkt gegenüber. Nach einem kurzen Moment der Verblüffung, die wohl alle anwesenden Journalisten  nach meiner Information  (Verlesen des Entwurfs der entspr. Regierungsverordnung ) teilten,  kamen seine Fragen wie aus der Pistole geschossen. Ich hatte ihn damals noch nicht als Bild-Korrespondenten identifiziert. Das erfuhr ich erst bei späteren Begegnungen. An das Gesicht  (Brille, gelichtetes Stirnhaar) erinnerte ich mich noch gut.

 

 

 

 

Der entscheidende Zwischenruf kam von mir: "Wann?" und "Sofort?"
Deutlich ist mein Zwischenruf zu hören.
Peter Brinkmann  | brinkmann.peter@gmail.com